Es ist wohl ein Ritual geworden, jedes Jahr vor dem Mathematik-Abitur mahnende Worte an die angehenden Abiturienten zu richten. „Passt auf, worauf ihr euch einlasst“, sind zusammen mit „Warum machst du das?! Du brauchst deinen NC noch!“ und mitleidigem Kopfschütteln einige der bekanntesten Reaktionen, die man vor der Prüfung erhalten hat. Und, im Nachhinein, muss ich zugeben, dass der Ratschlag gar nicht mal so falsch war. Mathematik ist anspruchsvoll; nicht umsonst waren und sind einige der größten Philosophen und Denker der Geschichte begabte Mathematiker. Man möge nur an Pythagoras denken, dessen Satz vom rechtwinkligen Dreieck wohl jeder Schüler kennt, und der eine gesamte philosophische Weltanschauung, basierend auf Mathematik, errichtet hat. Oder Leibniz, der gleichzeitig Gottesbeweise und Zahlenketten entwickelte. Newton, Da Vinci, Einstein, Hawkins – kurz gesagt, Mathematik geht häufig Hand in Hand mit Philosophie, logischem Denken und Erfindergeist.
Dem geneigten Leser kann dies auf den ersten Blick seltsam erscheinen. Denn was hat eine Mathematikklausur und eine Abhandlung über die Existenz eines Gottes gemein? Sind diese Themen nicht das genaue Gegenteil voneinander?
Und, ich muss ehrlich eingestehen – im Bezug auf die Schulmathematik ist dies gar nicht mal verkehrt. Doch bei der Mathematikolympiade, an welcher ich die Ehre hat, zehn Jahre lang in der Landesrunde teilzunehmen, erhält man ein anderes Bild von der Schönheit, welche Mathematik eigentlich ausmacht.
Das Ganze hat in der dritten Klasse mit relativ einfachen Arithmetikaufgaben angefangen, sich mit der Zeit jedoch immer weiter gesteigert. Geometrie, Algebra, Mengenlehre, Kombinatorik – all das wurde zum Thema. Im Zentrum stand jedoch immer die Fähigkeit zu einer sauberen Beweisführung. Aussagen müssen miteinander verbunden werden, Beweisstränge müssen „zu einem Ganzen“ zusammenkommen. A muss auf B aufbauen, und zwar nahtlos. Wenn dies nicht gegeben ist, kriegt man den Beweis nicht gebacken.
Ein Beispiel gefällig? Die Aufgaben sind als solche nicht mal kompliziert. Hier ein Beispiel aus der 56. Landesrunde der Olympiade, eine Aufgabe, welche für Schüler der Oberstufe konzipiert ist.
„Man bestimme alle reellen Zahlen x, die die Gleichung x5 +x4 +x3 +x2 =x+1 erfüllen.“
An sich ist die Aufgabenstellung nicht kompliziert. Doch die Beweisführung und das Ermitteln von x nehmen ganze Seiten in Anspruch (und, ich muss zugeben, manchmal dutzende Seiten). Riesige mathematische Bücher wurden verfasst, um zu beweisen, dass 1+1 2 beträgt. Solche Tatsachen können manchmal banal aussehen, doch die Kunst ist es, das Ergebnis zu sehen und gleichzeitig eine Beweisführung zu errichten, welche dieses Ergebnis als das einzig Mögliche ermittelt. Anders gesagt, man muss gleichzeitig den Turm aus Klemmbausteinen von oben betrachten und von unten bauen. Eine Denkweise, welche mir selbst, zugegebenermaßen, bei Weitem nicht immer geglückt ist.
Doch mit diesem Dilemma im Hinterkopf, wird deutlich, warum viele der größten Denker Mathematiker sind. Ein Problem von verschiedenen Seiten zu betrachten, es vollständig zu erfassen und dann lückenlos aufzuzeigen, warum es nur diese eine bestimmte Lösung gibt, ist wohl das, was man als „kritisches Denken“ betitelt – und gleichzeitig das, was Mathematik meiner Meinung nach ausmacht.
Deshalb lasst uns, wenn wir das nächste Mal uns über die Klausur aufregen, im Hinterkopf behalten, dass Mathematik eigentlich viel mehr ist, als nur „Differenziere folgende Funktion“ oder „Berechne den Winkel“. Und ich bin sehr froh, auf den Landesrunden der Olympiade eben diese Sichtweise erfahren zu dürfen. Wenn Sie sich denken, dass es ja eigentlich ganz spannend klingt – fragen Sie die Lehrenden Ihrer Kinder! Ich habe nur die Erfahrung gemacht, dass Lehrer sich immer freuen, wenn Schüler über den Tellerrand hinausblicken wollen. Und, ich kann nur bestätigen – die Erfahrung hat sich gelohnt.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Eduard Gertz, Abiturient des Liborius-Gymnasiums